Andrés, der kolumbianische Schneider aus Bogotá

Mein Name ist José Andrés Flórez Rodríguez und ich bin Schneider. Ich wurde am 19. September 1976 in Bogotá, der Hauptstadt von Kolumbien, geboren. Aufgewachsen bin ich nicht weit von hier, von meinem Laden. Ich betreibe eine Schneiderei und Reinigung – bin also mit meinen 38 Jahren schon lange Unternehmer und mein eigener Herr. Privat bin ich verheiratet, meine Frau heisst Rocío. Wir haben einen zweijährigen Sohn, der Jacobo heißt, unser ganzer Stolz! Meine Frau ist auch berufstätig. Während unserer Abwesenheit kümmert sich meine Schwiegermutter um unseren Junior.

Andres Florez ColombiaIch war sehr überrascht, als ich die Anfrage bekam, meiner Kundin ein Interview zu geben. Als sie mir erklärte, dass sie im Internet in ihrem Blog über die Themen Reparatur, Schonung von Ressourcen und Recycling schreibt, war ich sofort motiviert, mitzumachen. Ich habe übrigens ihre Bluse, einen Blazer und noch andere Kleidungsstücke wieder zu neuem Leben erweckt! Hast Du den Beitrag Vorher – Nachher: Upcycling der Lieblingsbluse, schon gesehen?

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Anbei meine Antworten auf die Fragen, die sie mir gestellt hat:

Wie ich mein Handwerk gelernt habe
Das Schneidern liegt bei uns in der Familie: schon mein Großvater war Schneider und mein heute 75-jähriger Vater arbeitet noch immer in seinem Handwerk. Ich habe drei Brüder und eine Schwester. Wir haben unserem Vater schon in der Schulzeit mitgeholfen und er hat uns den Beruf gelehrt. Meine Geschwister haben wie ich in anderen Stadtteilen ihre eigenen, kleinen Schneidereien. Wir sind sehr froh, dass es uns allen gut geht. Einen Berufsverband? Nein, so etwas gibt es meines Wissens in Kolumbien nicht – zumindest habe ich noch nie etwas davon gehört. Und ich wüsste davon, wenn es das gäbe!
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Meine Schneiderei
In meinem Laden, den Ihr hier auf den Fotos sehen könnt, hat schon mein Vater für seine Kunden genäht. Damals arbeitete er noch mit einer mechanischen Fußpedal-Nähmaschine. Das Lokal war ganz anders als heute, es gab mehrere kleine Räume. Als ich 19 Jahre alt war, starteten mein Bruder und ich hier, mit Vaters Nähmaschine. Vor fünf Jahren konnten wir das ganze Haus kaufen und ich renovierte den Laden. Dabei wurden auch Wände herausgerissen, so dass jetzt alles viel größer und heller wirkt. Inzwischen habe ich natürlich auch elektrische Nähmaschinen und bin damit gut ausgestattet. Ich habe auch eine Annahmestelle für die Reinigung von Kleidern in meinen Laden integriert, das wird hier in unserem Stadtteil rege genutzt. Mit der Kombination Schneiderei-Reinigung kann ich meinen Kunden nun einen besseren Service bieten und ich verdiene dadurch auch besser. Sogar eine Aushilfe kann ich mir jetzt leisten.
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Was ich zum Thema Reparatur denke

Im Unterschied zu früher sind heute 90% meiner Näharbeiten Reparaturen. Vor nicht allzu langer Zeit ließen sich die Leute noch Kleider nähen, weil sich das lohnte. Ein schickes Festkleid kostete 600’000 Pesos (ca. 300 Franken / 225 Euro). Heute bekommt man es für einen Viertel dieses Preises im Laden. Allerdings hat die Qualität sehr nachgelassen. Der Textilwarenmarkt wird mit chinesischer Ware überschwemmt, Kleidung wird quasi zum Wegwerfartikel. Leider! Damit will die Kleidungsindustrie die Nachfrage ankurbeln. Wie bei Elektrogeräten auch. In meinem Laden benötige ich beispielsweise ein Bügeleisen, um die Kleidungsstücke, die ich repariere nach getaner Arbeit aufzubügeln. Während meine ersten Bügeleisen locker 10 Jahre und länger hielten, geben die jetzigen Modelle schon nach einem Jahr den Geist auf. Wie die Beziehungen übrigens inzwischen auch!

DSCN9207Meine Beobachtungen zum Recycling
Hier in Kolumbien musst Du nur etwas vor die Tür stellen – sofort holt es sich jemand, der es brauchen kann. Hier vor meiner Tür sieht man auch oft kleine Transporter von privaten Recycling-Unternehmen vorbeikommen, sie holen Glas, Elektrowaren, Metalle und vieles mehr ab. Auch Privatpersonen durchstreifen die Straßen mit ihren Megafonen und weisen auf ihre Recyclingdienste hin. Das funktioniert ganz gut. Sie sammeln die Dinge und verkaufen sie weiter, das ist ein gutes Geschäft. Bezüglich gebrauchter Kleidung gibt es an der Plaza España einen Mann, der diese aufkauft. Für ein Kleidungsstück zahlt er zwischen 1.000 und 3.000 Pesos (50 Rappen bis 1.50 Franken / 40 Cent bis 1.20 Euro). Das hört sich nach wenig an, aber die Menge macht’s. Auch gibt es in der Stadt Second-Hand-Läden, in denen Schuhe, Kleidung, Taschen und Gebrauchsgegenstände aus den USA verkauft werden. Mobiltelefone werden leider viel zu schnell weggeworfen. Ich selber versuche, in meinem Laden sorgsam mit den Dingen umzugehen. Die Plastikbügel der Reinigung verwende ich wieder: meine Kundinnen und Kunden bringen sie zurück. In Kanada wird dies auch so gehandhabt, habe ich gelesen.

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Was mir an meiner Arbeit am meisten gefällt
Ich haben den Umgang mit meinen Kundinnen und Kunden sehr gern. Eigentlich hätte ich Psychologe werden wollen, habe mich dann aber doch für’s Handwerk entschieden. Hier in meinem Stadtteil kenne ich durch die Laufkundschaft viele Leute. Sie mögen mich und ich mag sie. Sie vertrauen mir, weil ich ihre Kleidung und ihre zu reinigende Stücke gut behandle. Die Wertschätzung und das Vertrauen, das man mir entgegenbringt, tun mir gut. Mit der Zeit kennt man von den Menschen ihre Geschichten und gewinnt so manchen auch lieb. Schicksale wie Krankheiten oder Tode können mir ganz schön unter die Haut gehen. Aber im Großen und Ganzen ist es erfüllend, so viel Kontakt zu anderen Menschen zu haben.

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Meine Träume für die Zukunft
Als Unternehmer muss ich hart ran: mehr Arbeit, eine höhere zeitliche Belastung. Aber dafür verdiene ich auch besser, kann mit meiner Familie in den Urlaub fahren – das ist der Vorteil. Ein Nachteil ist, dass ich keine Sozialversicherung für mein Alter habe. Darüber mache ich mir aber keine allzu großen Sorgen, denn das Grundstück, auf dem mein Laden steht, hat in den letzten Jahre einen starken Wertzuwachs erfahren. Die Stadt wächst in diese Richtung. Mein Traum ist es, auf meinem Grundstück ein Hochhaus mit vier Stockwerken zu bauen. Es soll sechs Wohnungen und zwei Lokale haben, die ich vermieten kann. Im oberen Stockwerk möchte ich meine eigene Wohnung haben. So kann ich von den Mieteinnahmen unser Alter finanzieren. Das ist natürlich noch eine Weile hin, ich bin ja noch jung. Mittelfristig möchte ich meine Arbeit weitermachen, aber das Geschäft anders aussteuern. Und in der näheren Zukunft möchte ich gern nochmal Papa werden!

DSCN9224Einen weiteren Beitrag zu Andrés‘ Arbeit findest Du hier: Vorher – Nachher: Upcycling der Lieblingsbluse

Vorher – Nachher: Upcycling der Lieblingsbluse

Retrospektive, November 2013
Meine schwarze Bluse mit Nadelstreifenmustern fällt langsam auseinander. Zugegeben, sie hat schon einige Jährchen und unzählige Waschgänge auf dem Buckel. Und das Mischgewebe ist nicht hochwertig. Der Stoff auf der Innenseite der Manschetten hat sich durch das häufige Bügeln einfach aufgelöst, einige Fäden liegen frei. Das liegt sicher auch daran, dass ich die Manschetten gerne lässig nach außen aufkremple. Ich mag es, wenn dadurch die Bluse etwas sportlicher wirkt. Doch nun geht es beim besten Willen nicht mehr, selbst wenn ich die Manschetten nicht umschlage. Die Fäden fallen immer wieder heraus und ich fühle mich nicht mehr wohl.

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Die völlig aufgelöste Manschette meiner Bluse

Dezember 2013
Nach der letzten Wäsche und Bügeln hänge ich die Bluse weg. Zum Wegwerfen ist sie mir zu schade, auch wenn sie kein Glanzstück puncto Stoffqualität ist. Aber genäht wurde sie gut. Kein einziger Knopf fiel bisher ab und die Nähte sind akkurat vernäht und haben alle Waschgänge gut überstanden. Ein paar Mal in diesem Monat vermisse ich mein Kleidungsstück schmerzlich, morgens vor dem Kleiderschrank. Ich trage die Bluse nämlich gerne ins Büro, oder auch zu etwas schickeren Gelegenheiten. Aber jetzt ist sie kaputt…

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Kaputt ist kaputt!

Januar 2014
Mein Entschluss steht fest: Upcycling. Aus alt mach neu! Ich stelle erste Überlegungen an, wie ich das Projekt angehen könnte. Zunächst einmal denke ich darüber nach, was ich gerne mag und stöbere in meinem Kleiderschrank, um mich inspirieren zu lassen. Meine Lieblingsblusen sind meist aus zwei Stoffen gefertigt. Sie haben einen Hauptstoff und in den Innenseiten der Manschetten und im Krageninneren einen anderen Stoff. Dieser Muster- und Farbenmix gefällt mir ausserordentlich. Ich beschliesse, meine Bluse auf diese Weise „aufzupeppen“. Fortan stöbere ich hier und da nach einem passenden Stoff, werde aber nicht fündig. Ich habe einfach zu wenig Zeit und es gibt auch nur noch wenige Läden, die noch Stoffe führen.

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Bildquelle: http://www.amazinggoodwill.com

Februar 2014
Eine ungeplante Reise steht an – nach Kolumbien. Eine Beerdigung, leider. Während ich packe, fällt mir ein, dass es gute Änderungsschneidereien in dem Andenland gibt. Ob ich es versuchen soll? Seit Wochen befasse ich mich nun schon damit, meine Bluse zu reparieren und schaffe es zeitlich einfach nicht. Sollte ich nicht guten Gewissens eine Dienstleistung in Anspruch nehmen? Auch Schneider müssen überleben! Heftiges Nicken in mir. Das lieb gewonnene Stück reist mit. Dort angekommen, zeige ich die Bluse dem Änderungsschneider. Hier haben meine Verwandten schon so mancherlei Kleidungsstück wieder herrichten, ändern oder reparieren lassen. Andrés, so heißt der Schneider, schaut sich den Schaden fachmännisch an und erklärt mir dann, dass er eine so kaputte Manschette nicht reparieren könne. Erst, als ich ihm das Prinzip des Mustermixes am Beispiel der Bluse zeige, die ich gerade trage, geht ihm ein Licht auf. „Klar, das geht natürlich!“ sagt er und lächelt erleichtert. „Haben sie den Stoff mitgebracht?“ Nein, habe ich natürlich nicht… Insgeheim hatte ich gehofft, er habe in seiner Schneiderei passende Stoffreste. Doch er verneint. „Sie müssen einen Stoffladen aufsuchen und dann den Stoff ihrer Wahl mitbringen,“ sagt er. Dazu ist es zu spät, denn ich trete übermorgen schon die Rückreise an. Ich schaffe ich zeitlich nicht mehr. Doch Ostern bin ich wieder in Kolumbien, um den Urlaub hier zu verbringen. Dieser Aufenthalt war schon lange vor dieser außerplanmäßigen Reise gebucht. Bis dahin müsste sich ein geeigneter Stoff finden lassen. Etwas zerknirscht packe ich die Bluse wieder in den Koffer und sie reist wieder in die Schweiz zurück…

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Bildquelle: http://www.itscoop.ch

März 2014
Es ist gar nicht so einfach, ein passendes Muster für den schwarzen Stoff mit den feinen hellgrauen Nadelstreifen zu finden! Abgesehen davon gibt es fast keine Läden für Nähbedarf mehr, die Stoffe am Laufmeter in ihrem Sortiment führen. Sollte es wirklich so sein, dass ich den weiten Weg zu Ikea fahren muss? Das scheint mir dann doch zu viel des Guten… Nach mehreren Anläufen über die Mittagspause nutze ich die Gelegenheit, an einem Samstag in der Stadt zu sein und suche den letzten Nähladen auf, bei dem ich noch eine Chance auf Erfolg wittere. Siehe da, hier gibt es noch Stoff am Laufmeter! Glücklich stürze ich mich ins Vergnügen, um zehn Minuten später enttäuscht und ernüchtert festzustellen, dass mir kein einziges Muster gefällt. Mehr durch Zufall streift mein Blick kurz vor Verlassen des Ladens noch ein paar Stoffballen unter einem Zuschneidetisch. Bingo! Die Verkäuferin zeigt mir den Stoff – das ist genau, was ich brauche. Das Muster: dunkelrosa Pünktchen auf weißem Untergrund. Später werde ich noch erfahren, dass die dunkelrosa Farbe einen ganz anderen Namen hat, aber dazu später… Ich bin jedenfalls sehr erleichtert, dass das Suchen ein Ende hat und lasse mir ein gutes Stück abschneiden.

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April 2014
Zurück in Kolumbien! Diesmal mit dem beschwingten Urlaubsgefühl und einigen Reiseplänen im Gepäck. Und natürlich meiner Bluse – diesmal mit dem passenden Upcycling-Stoff! Andrés erkennt mich sofort wieder und lächelt. „Buenos días!“ grüßt er fröhlich und fragt, wie es mir geht. Ein nettes Gespräch entwickelt sich – und dies ist nur eines von vielen positiven, spontanen und froh stimmenden Gesprächen in Kolumbien. Die Menschen hier verbinden Herzlichkeit mit einer ausgesuchten Freundlichkeit und Höflichkeit! „Calor humano“ – menschliche Wärme, sagt man hier dazu. Ich zeige dem Schneider die Bluse und den Stoff und bitte ihn, neben den Manschetten auch den Innenkragen und die Knopfblende mit dem neuen Pünktchenstoff zu versehen. Und die Knöpfe sollen mit einem dunkelrosa Garn, gleich der Farbe der Punkte auf dem weißen Stoff wieder angenäht werden. „No hay problema, lo haré en fuchsia“, antwortet er. Ja, genau, die Farbe heißt Fuchsia, stimmt! Ich könne die Bluse in einer Woche holen. Perfekt! Ob ich anzahlen würde, bitte? Hierzulande ist es bei Dienstleistungen gang und gäbe, dass Anzahlungen verlangt werden. Nachdem meine Verwandten Andrés schon lange kennen und er vertrauenswürdig ist, zahle ich gleich alles – auch die Reparatur der zweiten Bluse mit einem Riss am unteren Knopfloch und eines Blazers, dessen Futter komplett ersetzt werden muss. Und ich lasse auch noch gleich meinen rot-schwarzen Wollponcho reinigen – im Andenland kann es kühl werden und Bogotá liegt auf 2.600 m…

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Work in progress – der Schneider hat die Knöpfe abgenommen und näht die Knopfleiste fest

Geben sie mir ein Interview?
Seit meiner letzten Reise schwebt mir vor, einen Blog-Beitrag über Andrés zu schreiben. Ich fasse mir ein Herz, bevor ich den Laden verlasse: „Würden sie mir ein Interview für meinen Internet-Blog geben? Ich schreibe über Reparatur und Recycling und einen nachhaltigen Umgang mit Ressourcen.“ Ungläubig sieht er mich an. „Mich interviewen? Oh!“ – er ist wirklich überrascht. Ich bin sicher, dass ihm so etwas noch nie passiert ist. Um den Schreck zu lindern, erkläre ich ihm, dass er als Änderungsschneider mit seiner Arbeit genau das tut, worüber ich schreibe. Und dass deshalb meine Wahl auf ihn gefallen sei. Das kann er gut verstehen und fühlt sich sichtlich geehrt. „Ja gerne!“ sagt er. „Kommen sie nächsten Mittwoch Nachmittag, da ist meine Aushilfe da und ich werde mir für das Interview Zeit nehmen.“

Vorher-Nachher Bilder
Ich finde, das Upcyclingprojekt „made in Colombia“ ist gelungen! Nicht nur konnte die ursprüngliche Arbeit der Erst-Näherin wertgeschätzt werden, sondern auch die Reparaturarbeit des Schneiders in Bogotá. Die Reise dorthin fiel sowieso an, da fiel der weite Weg nicht extra an. Die Zeit im Vorfeld habe ich gerne investiert – wenn sich das ganze Projekt auch über einen langen Zeitraum gezogen hat. Ich bin sehr zufrieden, keine neue Bluse gekauft, sondern eines meiner Lieblingsstücke „gerettet“ zu haben! Und die Fotoreportage findet sich hier: Andrés, der kolumbianische Schneider aus Bogotá.

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Das Resultat kann sich sehen lassen!

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